Aktenberge statt Automatisierung: Der Alltag deutscher Behörden
Wartezeiten von bis zu 16 Wochen für Wohngeld, 70.000 unbearbeitete Anträge bei der Beihilfestelle in Hessen – die deutsche Verwaltung steht mit dem Rücken zur Wand. Überlastete Mitarbeiter, veraltete Prozesse und eine sinkende Zahl an Fachkräften machen effizientes Arbeiten nahezu unmöglich. Kein Wunder, dass die Hoffnung jetzt auf Künstlicher Intelligenz (KI) liegt.
Denn KI kann genau das leisten, was viele Behörden dringend brauchen: Routinearbeiten automatisieren, Bearbeitungszeiten verkürzen, Personal entlasten. Doch ausgerechnet ein Gesetz, das eigentlich für Effizienz sorgen sollte, erweist sich als technologiefeindliche Hürde: der § 35a Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG).
KI ja, aber bitte nur ohne Denken?
Der Paragraph 35a erlaubt den Einsatz automatisierter Verwaltungsakte nur dann, wenn weder ein Ermessensspielraum noch eine Abwägung notwendig ist. Das heißt: Nur dann, wenn eine Entscheidung ganz klar nach dem Schema „wenn A, dann B“ getroffen werden kann. Sobald also menschliches Urteilsvermögen gefragt ist – etwa bei Ausnahmen oder besonderen Härtefällen – ist die Maschine raus.
Das Problem: In der Praxis gibt es kaum Verwaltungsentscheidungen ohne irgendeine Form von Ermessensspielraum. Selbst dort, wo alles längst nach internen Richtlinien, Kriterienkatalogen und Verwaltungsvorschriften abläuft, bleibt formal ein Ermessensspielraum bestehen – auch wenn ihn in Wahrheit niemand nutzt.
Genau hier hakt § 35a: Er differenziert nicht zwischen echtem, offenen Ermessen und sogenanntem strukturiertem Ermessen, das de facto nach festen Regeln abläuft. Das Ergebnis: Die Verwaltung darf selbst dort keine KI einsetzen, wo der Mensch nur noch „nach Schema F“ entscheidet.
Bürokratie trifft auf Digitalisierung – und verliert
§ 35a stammt aus dem Jahr 2017 – also aus einer Zeit, in der KI noch als nettes Forschungsthema galt, nicht als produktives Werkzeug. Heute hat sich die Technologie rasant weiterentwickelt: Moderne KI kann natürliche Sprache verstehen, komplexe Muster erkennen und Entscheidungen auf Basis von Wahrscheinlichkeiten treffen. Doch das Gesetz tut so, als würde da ein simpler Taschenrechner arbeiten.
Hinzu kommt: Während Brüssel mit der EU-KI-Verordnung einen risikobasierten Ansatz verfolgt – je höher das Risiko, desto höher die Anforderungen – sagt der deutsche Gesetzgeber schlicht: KI bei Ermessen? Verboten. Punkt.
Damit verbaut sich Deutschland eine Riesenchance. Gerade in Bereichen mit hohen Fallzahlen, standardisierten Verfahren und überschaubaren Grundrechtsrisiken könnte eine gut trainierte KI den Sachbearbeiter spürbar entlasten – etwa bei Anträgen für Wohngeld, Elterngeld oder Beihilfen.
Was jetzt passieren muss: Mut zur Reform!
Statt einem pauschalen Verbot braucht es einen differenzierten Ansatz. Nicht jedes Ermessen ist gleich. In Bereichen mit strukturiertem Ermessen sollte KI unter klaren rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen eingesetzt werden dürfen. Und zwar nicht blindlings, sondern mit menschlicher Kontrolle, Transparenz und jederzeitiger Korrekturmöglichkeit.
Pilotprojekte könnten zeigen, wie ein solches hybrides Modell funktioniert: KI prüft Standardfälle vor, der Mensch entscheidet in komplexen Konstellationen. Das spart Zeit, Geld und Nerven – und schafft Raum für echte Verwaltungsarbeit, statt Papierkrieg.
Verwaltung macht es sich selbst schwer
Dass die Verwaltung überlastet ist, wissen wir seit Jahren. Dass sie sich selbst mit veralteten Gesetzen wie § 35a VwVfG lahmlegt – das ist hausgemacht. Der Paragraph stammt aus einem analogen Denken, das mit der Realität digitaler Werkzeuge nichts mehr zu tun hat.
KI braucht Regeln, ja – aber keine Denkverbote. Wer Künstliche Intelligenz wie einen Erbsenzähler behandelt, darf sich nicht wundern, wenn das System kollabiert. Es ist höchste Zeit, der Verwaltung das Werkzeug zu geben, das sie verdient: ein modernes, differenziertes, zukunftsfähiges KI-Gesetz.